Respekt

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6. März 2021: Unser Kommentar zum Beitrag von Olaf Scholz in der FAZ vom 1. März 2021, Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts


Olaf Scholz, der Kanzlerkandidat der SPD, analysiert in seinem Aufsatz in der FAZ gesellschaftliche, ökonomische und politische Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Er stellt fest, dass unsere Gesellschaft zunehmend in isolierte Gruppen zerfällt, die sich und ihre besondere Lage als singulär wahrnehmen. Der fehlende Respekt zwischen diesen "singulären Identitäten" wird dann als der zentrale Defekt unserer Gesellschaft hervorgehoben. Ein Programm der SPD müsse sich daher am Leitbild einer Gesellschaft des Respekts orientieren.


Wir finden, dass der Begriff Respekt sehr großes analytisches Potenzial hat. Der Beitrag nutzt dieses Potenzial auch sehr gut für eine aufschlussreiche Einschätzung. Wir finden auch, dass der Begriff ein sehr guter Einstieg in die Formulierung eines sozialdemokratischen Wahlprogramms ist. Als Resultat grundlegender Veränderungen fehlt in unserer Gesellschaft gegenseitiger Respekt und die SPD will etwas dafür tun, damit sich das verändert. So ist in etwa der politische Tenor des Beitrags.


Worauf wir hinweisen möchten, ist die Grenze des Respekt-Begriffs, und was die SPD jetzt tun kann, um diese Schwäche auszugleichen, langfristig und demnächst bei der Kommunikation über das Programm der Partei im Bundestagswahlkampf.


Die Grenze des Respekt-Begriffs liegt in der Unmöglichkeit, ein sozialdemokratisches Maßnahmenprogramm mit dem Verweis auf Respekt zu begründen (und so für dieses Programm zu werben).


Was meinen wir damit? Ganz grundsätzlich gibt es zwei mögliche Zusammenhänge zwischen politischen Maßnahmen und "Respekt": 1) politische Maßnahmen können Respekt zum Ausdruck bringen; und 2) politische Maßnahmen können Respekt in der Gesellschaft befördern.

Maßnahmen, die in die zweite Kategorie fallen (respektfördernde Maßnahmen) sind Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen. Das sind Maßnahmen, die Bürgerinnen und Bürger dazu anhalten oder davon überzeugen sollen, respektvoll zu handeln, zum Beispiel gegenüber anderen "singulären Identitäten". Das sind Seminare, die von der Bundeszentrale für politische Bildung angeboten werden, "nudging" Tricks, um den öffentlichen Raum freundlicher und kooperativer zu machen, Informationskampagnen des Gesundheitsministeriums, und so weiter. All dies ist wichtig und erbaulich, und oft auch nötig und effektiv, aber natürlich nicht genug für ein sozialdemokratisches Programm.


Dann bleibt also noch die erste Kategorie, also Maßnahmen, die Respekt zum Ausdruck bringen. Echte (das heißt politische) sozialdemokratische Maßnahmen (aktuell zum Beispiel ein höherer Mindestlohn oder eine Mobilitätsgarantie) sind Maßnahmen, von denen man plausibel nur sagen kann, dass sie Respekt zum Ausdruck bringen. Der Mindestlohn befördert keinen Respekt, denn niemand hat mehr Respekt vor jemandem, der vom Mindestlohn profitiert, nur weil der Mindestlohn erhöht wird. Aber ganz sicher bringt die Erhöhung des Mindestlohns Respekt zum Ausdruck, vor der Arbeitsleistung und dem Einsatz aller potenziell Profitierenden.


Weil der Respekt in der Gesellschaft aber aktuell fehlt (das ist der analytische Ausgangspunkt der Respektkampagne, denn sonst wäre Respektförderung ja nicht notwendig), bringt jede einzelne sozialdemokratische Massnahme erst einmal nur Respekt für eine einzelne “singuläre Identität" zum Ausdruck (nämlich für diejenige, die von der Maßnahme profitiert oder die sich die Maßnahme wünscht, aus welchen Gründen auch immer).


Allerdings ergibt sich aus der Addition solcher Maßnahmen kein Mehr an Respekt in der Gesellschaft und auch keine integrierte Sichtweise auf Respekt als Prozess der Gegenseitigkeit, wenn die jeweilige "singuläre Identität", die durch eine bestimmte Maßnahme Respekt erfährt, die einzige ist, die das so sieht (also dass die Maßnahme Respekt zum Ausdruck bringt), während andere "singuläre Identitäten" das nicht so sehen. Im schlimmsten Fall entsteht sogar der Eindruck, dass der Respekt für "die anderen" eine Respektverweigerung für die eigene "singuläre Identität" darstellt (!).

Genau hier endet also die Nützlichkeit des Respekt-Begriffs. Er hilft bei der Analyse und bei der Meta-Begründung für die Notwendigkeit sozialdemokratischen Handelns. Aber er taugt nicht als Begründung für sozialdemokratische Maßnahmen, die in der Addition das sozialdemokratische Programm bilden sollen.


Die Sozialdemokratie kommt also nicht um die Frage herum, welche Erwägungen ihre Wählerinnen und Wähler dazu bewegen sollen, andere und ihre Lebensweise, ihre materiellen und immateriellen Bedürfnisse, zu respektieren. Und warum es sozialdemokratische Maßnahmen braucht, die solchen Respekt zum Ausdruck bringen. Gute sozialdemokratische Begründungen für solche Maßnahmen (zum Beispiel den Mindestlohn oder die Mobiliätsgarantie) gibt es ja, zum Beispiel weil sie gerecht sind, weil eine Gesellschaft ohne institutionalisierte Solidarität nicht funktioniert, weil jeder in Freiheit leben soll.


Im kommenden Bundestagswahlkampf für Respekt zu plädieren und Maßnahmen als Respekt ausdrückend zu deklarieren, wird die Wähler und Wählerinnen nur dann von der Notwendigkeit der Sozialdemokratie überzeugen, wenn die SPD gut erklären kann, dass Respekt begründbar, notwendig und hilfreich ist. Als Letztbegründung reicht Respekt nicht aus.